pamedium.de
Die Zeichen der anderen Wirklichkeit

Kapitel 3

Meine weltliche Lehrzeit, 1979-1981


 Ich war mit einer Größe von 1,84 m und absoluten Traummaßen ein hübsches, patentes Mädel und bekam den Ausbildungsplatz bei einem der beliebtesten Allgemeinmediziner in Wolfsburg, dessen Praxismädels nach Aussehen eingestellt wurden. Er war der ultimative Häuptling unseres Stadtteils, ehemaliger Politiker und Arzt mit Leib und Seele. Bei ihm erlernte ich den Beruf der Arzthelferin und der Laborantin.

Durch meine Tätigkeit im Labor lernte ich die Beschaffenheit des Blutes und des Urins im Detail kennen. Ich sah mir unter dem Mikroskop die Leukozyten und Thrombozyten an, und lernte, das Blut in seine kleinen Bestandteile zu zerlegen.

Ich war davon begeistert, am Inhalt von Glaspipetten erkennen zu können, ob ein Patient Entzündungswerte aufwies oder nicht.

Die sonderbarsten Uringefäße wurden in meinem Laborzimmer abgegeben. Einer der renommiertesten Pizzeriabesitzer der Stadt gab seinen Mittelstrahl Urin jedes Mal in einer kleinen Weinkaraffe ab und ließ sie sich nach der Untersuchung wieder aushändigen. Ich schleuderte Urin der halben Stadt und untersuchte ihn brav unter meinem Mikroskop. Ich lernte, was man selbst bei diesen Tätigkeiten über Menschen in Erfahrung bringen kann. Warum haben fast 80-jährige Frauen noch Spermien in ihrem Urin? Warum trinkt eine Arbeitskollegin den noch warmen Urin aus der Sektflasche, mit der er hierher transportiert wurde? Sie verwechselte ihn in ihrer morgendlichen Müdigkeit, schrie noch lange danach und ekelte sich für Wochen. Wir hatten viel zu lachen.

Bei den Untersuchungen der geschleuderten Urinproben unter dem Mikroskop fielen mir immer die wunderschönen Plattenepithelien, kleine strukturbildende Zellgruppen, auf. Sie verweisen auf eine Infektion und müssen behandelt werden.

Die gleichen Gebilde sah ich am Himmel in groß, erkannte die Verbindung von Mikrokosmos und Makrokosmos und lernte darüber das Prinzip: Wie oben, so unten.

Dieser Beruf machte mir großen Spaß und da mein Aszendent der Skorpion ist, interessiert mich auch der Blick hinter die Kulissen sehr. Der Skorpion liebt es, in die Tiefe zu schauen und hinter die Dinge des Lebens zu kommen. Ich mochte die Verschiedenartigkeit der vielen Patienten und ihre Eigenarten.

Früh ahnte ich die Bedeutung der Psychosomatik. Wie oft dachte ich mir, dass doch etwas ganz anderes hinter all den Leiden steckte, was niemand sehen konnte. Würde wohl eines Tages jemand den Zugang dazu herstellen?

Eine meiner liebsten Patientinnen war Frau Pieper. Sie hatte jedes Mal den Auftritt einer ulkigen Diva und erfüllte den kleinen Praxisraum mit einer Aura des Leidens, die sie uns dann jedes Mal bis ins Detail offenbarte. Diesmal ging es um ihre Schmerzen in der Lebergegend, die akut vor unserem Schreibtisch bejammert werden mussten. Sie berührte mein Herz und am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, aber ich legte intuitiv meine Hand auf ihren Oberbauch. Plötzlich schrie sie sehr laut durch die ganze Praxis, dass sie jetzt schmerzfrei sei. Ich dachte mir nichts dabei, aber mein Chef stürmte aus seinem Zimmer und fragte leicht genervt, was hier denn los sei. Nach dem Check der Sachlage bekam ich Ärger und das Verbot, so etwas noch einmal zu machen. Ich wusste selbst nicht, was da geschehen war. Ich merkte nur, dass meine Hand noch lange danach heiß war. Dieses Ereignis legte ich in meine spirituelle Schublade, die mit den Jahren größer werden sollte.

In unsere Praxis kamen auch regelmäßig die Drogensüchtigen von Wolfsburg. Eine 17-jährige heroinabhängige Patientin mit einem wunderschönen Gesicht, das damals noch nicht verlebt aussah, tat mir besonders leid. Ich fragte sie nach dem Grund für ihren Drogenkonsum. Nie werde ich ihre Erklärung vergessen. Sie berichtete mit strahlenden Augen, dass es nichts Geileres gäbe, als dieses Gefühl der totalen Zufriedenheit und Liebe aus dem Heroin. Sie sei in einem Glück, das sie auf dieser Welt noch nie erlebt hatte.

Diese Darstellung hängt heute noch in meiner Erinnerung, genauso wie der Ausdruck in ihren Augen. Ich hoffe, dass sie dem wahren Liebesfeld begegnen durfte, um den Ersatz nicht mehr zu brauchen.

Auch lernte ich, den Tod vom Leben zu unterscheiden, als ich eines Tages zum Hausbesuch um die Ecke geschickt wurde. Ich sollte einem bettlägerigen Patienten den Blutdruck messen. Beim Betreten der Wohnung bemerkte ich das aggressive Verhalten seines Dackels, der mich in keinster Weise an den Patienten lassen wollte. Er beruhigte sich nicht und wurde deshalb in ein Nachbarzimmer verbannt. Ich maß mindestens fünf Mal den Blutdruck, aber es baute sich kein Wert auf. Ich rannte zurück in die Praxis und bekam Order, den Spiegel unter seinen Atem zu halten. Kein Hauch. Nichts. Exitus.

Für den Rest des Tages war mir schlecht und mein Chef sprach über meine Feuertaufe, als wäre es die normalste Sache der Welt.

Ich lernte ferner, dass man Arbeitsunfähigkeits-bescheinigungen auch mit Tieren erpressen konnte, soweit man viel Fantasie hat.

Es klopfte an unserer sogenannten Klappe, der schiebbaren Verbindung zum Wartezimmer. Ich war allein in der Praxis und übernahm die Anmeldung für den Nachmittag. Ich öffnete und vor mir stand ein mir bekannter Patient russischer Herkunft.

Er forderte eine sofortige Krankmeldung und wenn ich das nicht täte, ließe er die Schlange aus dem Koffer. Er öffnete den Koffer und tatsächlich befand sich eine Riesenwürgeschlange in ihm. Ich war entsetzt, haute die Klappe zum Wartezimmer zu und rief sofort bei der Polizei an. „Hilfe, ich werde von einer Schlange bedroht. Bitte kommen sie sofort.“ Ich nannte Namen und Anschrift der Praxis.

Es dauerte gar nicht lange, da hörte ich das rettende Martinshorn und fühlte mich, durch die nahende Staatsgewalt, in Sicherheit. Ich entriegelte die Tür. Der Täter war natürlich schon weg und der Polizist dachte sich seinen Teil, aber ich wusste, was ich gesehen hatte. Am nächsten Tag bekam ich eine Entschuldigung und Blumen von unserem russischen Patienten. Er schob seine tierische Entgleisung auf die Wirkung des Wodkas.

Meine Arbeitskolleginnen waren durchgestylte, jedoch von Hilfsmitteln abhängige, nette Mädels, die sich nur selten einen Zickenkrieg leisteten, da der uns zu Verfügung stehende Raum nur 65 qm groß war. Wenn Streit in dieser Enge stattgefunden hätte, wäre er sehr schnell eskaliert und zum Flächenbrand geworden. Sie blieben brav, lebten ihr Konkurrenzverhalten aber auf einem anderen Territorium aus. Es wurde gemodelt, was das Zeug hielt, knallroter Lippenstift wurde von schwarzem Konturenstift umrandet und der Louis Vuitton Koffer war Pflicht.

Mein Chef meinte des Öfteren, die Berechtigung zu haben, aus uns einfachen Mädchen gebildete Luxusfrauen zu machen. Daher sollte auch ich eines Tages aufgestylt werden. Also fuhren wir nach Braunschweig, um mich bei Burberry einzukleiden.

Den Trenchcoat ließ ich mir ja noch gefallen, aber den Rest lehnte ich stur ab. Ich blieb das sportliche Mädel mit Jeans, Sweatshirt und den weißen Adidas Turnschuhen.

Auch wollte ich auf keinen Fall in der Abhängigkeitsfalle der Spachtelindustrie landen, da ich mit der natürlichen, roten Farbe meiner hohen Wangenknochen zufrieden war und außerdem wollte, dass meine blauen Augen nicht von Tusche, sondern von schönen Ereignissen leuchten.

Diese Arbeitsstelle war ein gutes Trainingsfeld für meine späteren psychoanalytischen Fähigkeiten, das Beobachten der Patienten und ihrer Angehörigen schulte meinen Blick für astrologische Zusammenhänge.

Viel freie Zeit zum Leben blieb mir nicht, da dieser Job uns oft, z.B. aufgrund von Grippewellen, bis mindestens 19:30 Uhr in den Räumen gefangen hielt. So musste man aus Arbeitskollegen Freunde machen und die privaten Freundschaften unter der Woche etwas vernachlässigen.

Am Wochenende fuhren wir liebend gern in den Jembker Hof. Das war eine alternative Dorfdisco mit absolut guter Musik, aber auch einem drogensüchtigen Besucherstamm. Hier traf sich die alternative Szene von Wolfsburg und unsere Patienten waren natürlich auch vertreten. Parallel lief in anderen Discos die Popperwelle ab, aber das war mir zu spießig.

Ich hatte zwar keine Sucht, aber dieser Ort gab mir tanzende Freiheit. Einer kannte den anderen, man hat sich einander vorgestellt, blieb oder ging halt wieder.


>> weiter Kapitel 20